“The Creation of World Poverty” von Teresa Hayter, Teil 2

brac_microcredit_borrowers_and_children_gazipur_district_1_500x375Buchrezension: „The Creation of World Poverty” von Teresa Hayter, Teil 2/2

Prairie Fire
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„The Creation of World Poverty“ wurde 1981 von Teresa Hayter als Reaktion auf den Brandt-Report der Weltbank publiziert. Noch heute, Jahrzehnte danach, hat ihre Darstellung der offensichtlichsten Tatsache der heutigen Zeit, namentlich der Unterschied zwischen den armen und den reichen Ländern, nichts von ihrer Prägnanz verloren. Ihr Buch ist mit Sicherheit genauer als alle Darstellungen von den erstweltlerischen sogenannten Marxisten. Auch wenn Hayter nicht zu hundert Prozent für die Dritte Welt einsteht, unterm Strich tut es der Inhalt ihres Werkes schon. Hayters Buch kann gut als Einführung zum Studium der Dependenztheoretiker gebraucht werden, die zu drittweltlerischen Schlussfolgerungen gelangt sind, obwohl sie oftmals ausschließlich innerhalb akademischer Kreisen arbeiteten. Das Buch von Hayter kann durchaus in eine Reihe mit den Werken von Ökonomen wie André Gunder Frank, Walter Rodney und Samir Amin gestellt werden. Der erste Teil der Buchrezension hat den Ursprung der schreienden Ungleichheit zwischen den Ländern auf den Beginn des Kapitalismus und auf die europäische Kolonialzeit zurückverfolgen können. Hayter meint, dass Westeuropa diese dominierende Stellung einnehmen konnte, weil der Kapitalismus dort entstanden sei und einen kräftigen Schub durch den Zustrom von Geldern aus den Kolonien erhielt. Auf diese Weise konnten sich zuerst Westeuropa, dann die USA und später die restlichen Länder der Ersten Welt die Vorteile des Kapitalismus zu Nutze machen. Auf diese Weise konnte die Erste Welt ihre eigene Entwicklung vorwärtstreiben, während sie die Kolonien in einer fortdauernden Unterentwicklung zurückließ. Der zweite Teil der Buchrezension wird die Entwicklung der Unterentwicklung genauer untersuchen.

Die Entwicklung der Unterentwicklung

Hayter untersucht die Argumentation, welche von den Erstweltlern entwickelt wurde, wonach die Kolonisation, mochte sie auch noch so brutal gewesen sein, dabei half, die rückständigen Teile der Erde ins moderne Zeitalter zu bringen. Sie argumentieren, dass der Imperialismus das politische Bewusstsein und die Produktivität der Kolonien vorwärtsbringen könne. Marx diskutiert die angeblich progressive Rolle des Kolonialismus im Manifest der Kommunistischen Partei, ein bekanntes Werk, welches den historischen Materialismus stark vereinfacht und wohl nicht unbedingt sein wissenschaftlichstes Werk war:

„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schifffahrt, der Industrie einen niegekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.

Die bisherige feudale oder zukünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.

Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierten der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois.

Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schifffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße, entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.“ (1)

Die erstweltlerischen sogenannten Marxisten zitieren oftmals nur Bruchteile aus den Werken von Marx, während sie die drittweltlerischen Hinweise aus seinen wissenschaftlicheren Werken schlichtweg ignorieren. So schaffen sie es, ihre Argumente à la „die Bürde des weißen Mannes“ zu rechtfertigen. Hayter weist darauf hin, dass es alternative Denker gibt, zum Beispiel Mao Zedong, die stark abweichende Ansichten vertreten. Mao meinte, dass Kolonialismus und Imperialismus die „rückschrittlichen“ Länder nicht vorwärts bringen können. Im Gegenteil, die Imperialisten hemmen und bremsen jegliche Entwicklung dieser Länder. Laut Mao gehen die Imperialisten oftmals Bündnisse mit den rückschrittlichsten Segmenten der reaktionären Klassen ein. Folglich unterstützen die Imperialisten oftmals die rückschrittlichsten Auswüchse der Gesellschaft in der Dritten Welt. Diese Bündnisse resultieren in halbfeudalen Wirtschaftsformen, welche die Entwicklung des inländischen Kapitals behindern. Die Britische Ostindien-Kompanie unterstützte in Indien die reaktionärsten Feudal- und Kompradorenkräfte und hemmten somit die Entwicklung Indiens. Hayter weist außerdem darauf hin, dass zum Beispiel die Spanier verschiedene halbfeudale Strukturen in Lateinamerika einführten, wo derartige Strukturen zuvor nicht existiert hatten. Die Imperialisten zerstückelten China und unterstützten und verbündeten sich mit den rückschrittlichsten Adligen und Kriegsherren. Maos Theorie der „Neuen Demokratie“ war eine Antwort darauf. Mao erkannte, dass die chinesische Bourgeoisie zu schwach war, um ihre antifeudale Mission auszuführen. Folglich wurde es zur Aufgabe des Proletariats und dessen Partei, die halbfeudalen Länder dazu zu bringen, die Ketten des Feudalismus und Imperialismus zu sprengen. Es wurde zu Aufgabe der Kommunistischen Partei, die Gesellschaft dazu zu bringen, den historischen Auftrag zu übernehmen, welche in Europa der bürgerlichen Klasse in Form einer kapitalistischen Revolution zugedacht war, und schließlich weiterzugehen und die Gesellschaft zum Sozialismus und Kommunismus zu führen. (2)

Hayter stimmt mit Mao darin überein, dass eine Unterentwicklung keinesfalls naturgegeben sei. Hayter meint, dass Unterentwicklung etwas sei, dass entwickelt wurde. Zu diesem Thema zitiert sie André Gunder Frank:

„[…] Die zur Zeit stattfindende Unterentwicklung ist zum großen Teil das historische Produkt der vergangenen und andauernden wirtschaftlichen und anderen Beziehungen zwischen den unterentwickelten Satelliten und den jetzt entwickelten Metropolen.“ (3)

Hayter zitiert ebenso Walter Rodney:

„Die entwickelten und unterentwickelten Teile des gegenwärtigen kapitalistischen Blocks der Welt standen seit viereinhalb Jahrhunderten in ständigem Kontakt. Meine Behauptung hier ist, dass während dieser Periode Afrika in dem Maße dabei half, Westeuropa zu entwickeln, wie Westeuropa dabei half, Afrika zu unterentwickeln.“ (4)

Die Unterentwicklung erfolgte nicht zufällig. Sie war das Resultat einer bewusst betriebenen Politik der Imperialisten. Zum Beispiel verabschiedeten die Engländer im 17. Jahrhundert die Navigationsakte und ähnliche Gesetze, welche es den Kolonien gesetzlich verboten hat, irgendeine Form von Industrie aufzubauen und damit mit dem imperialistischen Land in Konkurrenz hätte treten können. Stattdessen wurde von den Kolonien erwartet, dass sie ihre Rohstoffe in das imperialistische Land exportierten, wo die Güter weiterverarbeitet wurden und zurück in die Kolonien verkauft wurden. Zum Beispiel hackten die britischen Besatzer in Indien die Hände einheimischer Weber ab, um die inländische Textilproduktion zu drosseln und Indien so zu zwingen, mehr Textilien aus England zu importieren. Diese Politik bremste die industrielle Entwicklung der Kolonien und verwandelte sie in exportorientierte Volkswirtschaften. Außerdem machte dies die Kolonien von den Gütern der imperialistischen Länder abhängig. Hayter beschreibt, wie die Engländer die Industrie Indiens zerstörten:

„Eine der berüchtigtsten Anekdoten aus der britischen Kolonialgeschichte ist, dass die Engländer nicht aufhörten, die Industrie Indiens zu zerstören. Zwischen 1815 und 1832 fiel der Erlös aus indischen Baumwollwaren im Export von £1.3 Millionen auf unter £100’000. Dagegen stieg 1794 bis 1832 der Erlös der englischen Baumwollwaren, die nach Indien importiert wurden, von £156’000 auf £400’000. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein Viertel aller britischen Bauwollexporte von Indien importiert. Die Engländer entledigten sich der Konkurrenz indischer Textilien durch ein ausgeklügeltes Netz aus Einfuhrbeschränkungen und Schutzzöllen. Sogar in Indien selber wurde die lokale Textilproduktion durch die Steuern wirkungsvoll benachteiligt. Die daraus resultierenden Folgen lasteten schwer auf den indischen Webern…“ (5)

Überall in den Kolonien wurden ähnliche Gesetze erlassen. Das ein „Freihandel“ bestand, ist ein reiner Mythos. Das hielt die Imperialisten jedoch nicht davon ab, mit ihrer Freihandelsrhetorik große Reden zu schwingen, um anschließend Staaten zu unterwerfen. China hatte zum Beispiel den Opiumimport verboten. Das erzürnte die imperialistischen Drogenbosse. Der sechste Präsident der Vereinigten Staaten John Quincy Adams stellte sich 1842 auf die Seite der imperialistischen Drogenhändler:

„Die moralische Verpflichtung des Warenaustauschs zwischen den Nationen beruht vollständig und ausschließlich auf dem christlichen Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst… Aber China, das keine christliche Nation ist… hält sich beim Warenaustausch mit anderen Ländern an keinerlei Verpflichtungen… Es ist an der Zeit, dass dieser ungeheuerliche Frevel an den Rechten der menschlichen Natur [d.h. die Weigerung Chinas, Opium zu kaufen]… ein Ende finden muss.“ (6)

1840 startete die britische Flotte einen Angriff auf China. Mit vorgehaltener Waffe zwangen die Engländer den Chinesen eine Reihe von Verträgen auf. Diese Verträge garantierten den Ausländern Sonderrechte in den sogenannten Vertragshäfen. Sie zwangen China, Hongkong an sie abzutreten, die Importzölle zu reduzieren und zu guter Letzt den Opiumhandel zu legalisieren. Die Anwendung von Gewalt, um Märkte zu öffnen und Kolonien zu unterwerfen, war gang und gäbe. (7) Diese Methode, mit vorgehaltener Waffe seinen Willen durchzusetzen, mit Kanonen Märkte zu öffnen, wurde in der Geschichte des Kolonialismus immer wieder wiederholt.

Monostruktur der Exportwirtschaft

Unterentwicklung wurde oftmals so entwickelt, dass die Volkswirtschaft der Kolonien darauf ausgerichtet wurde, sich im Export hauptsächlich auf eine oder zwei verschiedene Waren zu stützen. Die Produktion in den Kolonien wurde auf einige wenige Produkte begrenzt, in manchen Fällen sogar nur auf ein einziges Produkt. Ganze Länder wurden darauf beschränkt, eine einzige Nutzpflanze anzubauen oder nur Bergbau zu betreiben. Ganze Länder der Neuen Welt wurden in gigantische Zucker- oder Tabakplantagen verwandelt. Als Teil dieses Prozesses eigneten sich die Imperialisten das fruchtbarste Land der Kolonien an. Statt für den Lebensmittelbedarf wurde für den Verkauf angebaut. Dazu musste die lokale Bevölkerung oftmals entfernt werden. Häufig wurden die indigenen Völker abgeschlachtet oder von ihrem Land in Reservate oder auf Ödland vertrieben. Das Land, das für die indigenen Völker übrig blieb, wurde überbewirtschaftet oder die Erde war zu wenig fruchtbar, um die Bevölkerung zu ernähren. Die Folge waren unter anderem schwerwiegende ökologische Schäden. Hayter zitiert aus „Geopolitik des Hungers“ von Josué de Castro:

„Der Anbau von Pflanzen, deren Produkte für den Export bestimmt sind, nimmt nicht nur den heimischen Nahrungspflanzen Platz weg, er ruiniert auch den Boden durch eine Verstärkung der Erosionsfaktoren. Das ist der Fall bei den Kakaopflanzungen der Goldküste und den Erdnusskulturen im Senegal.“ (8)

Dies geschieht auch heute noch. Während Hayter das Buch schrieb, machte der Primärgüter- und der Rohstoffexport 81 Prozent des gesamten Exports der „Billiglohnländer“ aus. Wenn man die erdölexportierenden Länder nicht dazu zählt, erzielte mehr als die Hälfte der Dritten Welt ihre Exporteinnahmen durch den Export von einer oder zwei Handelswaren. Sambia erzielte 94 % seiner Exporteinnahmen aus dem Kupferexport, Mauritius erzielte 90 % aus dem Zuckerexport, Kuba erzielte 84 % ebenfalls aus dem Zuckerexport und Gambia erzielte 85 % aus Erdnuss- und Erdnussölexporten. (9)

In denjenigen Kolonien, in denen sich die Imperialisten kein Land aneigneten, wurde die lokale Bevölkerung dazu gebracht, nicht für sich selber, sondern für den Markt zu produzieren. Dies öffnete für einige Schichten der lokalen Bevölkerung den Zugang zu europäischen Importen. In einigen Fällen jedoch wollte sich die lokale Bevölkerung nicht an der Produktion von Exportgütern beteiligen oder weigerten sich, auf den Grundstücken der Imperialisten zu arbeiten. War die lokale Bevölkerung nicht gewillt, die auferlegte Arbeit zu verrichten, importierten die Imperialisten die Arbeitskraft ganz einfach, meistens in Form von Sklaven. Auch nachdem die Sklaverei offiziell verboten wurde, blieben diese Menschen unfreie Arbeitskräfte ohne Alternativen zur Arbeit auf den imperialistischen Plantagen. Die eine Methode, um die lokale Bevölkerung dazu zu bringen, „Cash Crops“ anzubauen, war einfach, indem man eine Steuer einführte, die man mit diesen „Cash Crops“ bezahlen musste oder durch die Arbeit auf den Plantagen der Europäer. Das hatte zur Folge, dass die Zeit und das Land, welche zur Nahrungsmittelproduktion hätten verwendet werden können, auf ein Minimum reduziert und fähige Leute der Selbstversorgung entzogen wurden. Eine andere Methode, wie die Imperialisten die lokale Bevölkerung dazu motivierten, „Cash Crops“ anzubauen oder im Bergbau zu arbeiten, war durch das Erlassen von Gesetzen, welche die Lebensbedingungen vorsätzlich verschärften. Bewerkstelligt wurde dies mithilfe von juristischen und politischen Mitteln und durch den Aufkauf von Land, einfach um zu verhindern, dass es in die Hände der lokalen Bevölkerung geraten konnte. (10) Diese Politik hatte fürchterliche Konsequenzen:

„Die kompromisslose Umstellung der beherrschten Gebiete in Märkte für europäische Industriegüter und in Bezugsquellen für Primärgüter und Rohstoffe für den europäischen Konsum schwächte nicht nur die bisherige wirtschaftliche Autarkie der Produzenten, sondern schwächte auch zunehmend ihre Fähigkeit, sich selber zu ernähren.“ (11)

„Auch wenn Hungersnöte nicht ausschließlich ein Phänomen der Neuzeit sind, gibt es Hinweise darauf, dass sie in ihrem Ausmaß und Schweregrad zugenommen haben. Es scheint, dass es in Indien seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine drastische Zunahme der Sterblichkeit durch den Hunger gegeben hat.“ (12)

„Grundsätzlich ist klar, dass die ungleiche Verteilung von Lebensmitteln und Geld, um sie zu kaufen, ein gewichtiger Faktor ist, der zum Hunger beiträgt… und diese Ungleichheit nimmt zu. Die Kolonialmächte haben die Macht der Großgrundbesitzer ausgebaut oder, wie im Falle von Lateinamerika und Afrika, neue Großgrundbesitzer gebildet. In Indien verschuldeten sich die Kleinbauern bei Geldverleihern und Händlern dermaßen, dass diese sie zwingen konnten, ihnen ihre Ernte billig zu verkaufen, um weitere Kredite aufnehmen zu können. Solche Händler häuften Nahrungsmittel an und verkauften sie in Zeiten allgemeinen Mangels zu Preisen, die sich die Bauern nicht leisten konnten… Es spricht Vieles dafür, dass die zunehmende Ungleichheit nicht nur bedeutete, dass die Reichen reicher, sondern auch, dass die Armen ärmer wurden.“ (13)

Obwohl Kuba von Hayter erwähnt wird, übersieht sie, dass diese Methode, ganze Kolonien auf den Anbau einzelner Nutzpflanzen und Produkte zu reduzieren, auch im sowjetischen Sozialimperialismus angewendet wurde. Die Sozialimperialisten vertraten eine, wie sie es nannten, internationale Teilung der sozialistischen [sic] Arbeit. Das bedeutete, statt dass vielseitige Volkswirtschaften entwickelt wurden, die sowjetischen Kolonien auf ein oder zwei Güter festgelegt wurden, die sie zu exportieren hatten und von Moskau aus gesteuert wurden. Zum Beispiel wurde Kuba unter dem westlichen, aber genauso unter dem sozialen Imperialismus vom Zucker beherrscht. „Zehn Jahre nach ihrer Revolution verfielen sogar die Kubaner, deren Revolutionsführer von der Sklaverei des Zuckers gesprochen hatten, der Schimäre der 10-Millionen-Tonnen-Zuckerernte.“ (14) Einige vermuten, dass sich Che Guevara und Fidel Castro bei dieser Frage gespalten haben. Che, im Gegensatz zu Fidel, forderte eine militante Haltung gegenüber dem Imperialismus; er forderte „viele Vietnam“ quer durch die Dritte Welt. Che protestierte gegen die Übernahme des revisionistischen Modells in Kuba, welche eine Abhängigkeit zur Folge hätte. In Albanien fühlte sich Enver Hoxha gekränkt, als Nikita Chruschtschow vorschlug, aus diesem Land eine gigantische Obstplantage im Dienste des Ostblocks zu machen. Das maoistische China protestierte sowohl gegen die Imperialisten als auch gegen die Sozialimperialisten, welche beide Kolonien in Abhängigkeit halten wollten. Stattdessen stellen die Maoisten die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt der sozialistischen Wirtschaftsentwicklung. Teil des maoistischen Durchbruchs und mit ein Grund, weshalb der Maoismus die dritte Stufe des Marxismus ist, ist sein Quantensprung im Verständnis der sozialistischen Entwicklung und des Übergangs zum Kommunismus. Dies brachte China während dessen revolutionären Phase ins Kreuzfeuer beider Großmächte. Lin Biaos „Bericht auf dem IX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas“ von 1969 übernahm die Linie, welche besagt, dass die Revolution die Haupttendenz der gegenwärtigen Welt sei und das diese Epoche die Epoche Mao Zedongs sei, eine Epoche, in welcher der Imperialismus auf den vollständigen Kollaps zusteuert und der Sozialismus zum weltweiten Sieg voranschreitet. Maoismus war die ideologische Führung des globalen Volkskriegs der revolutionären Kräfte der Dritten gegen die Erste Welt, die Imperialisten, die Sozialimperialisten und deren Handlanger. Die Maoisten dachten, dass der Imperialismus an sein Ende angelangt sei. Lin Biao forderte die Völker vom globalen Land, sich in einem globalen Volkskrieg zu erheben und den Imperialismus ein für alle Mal zu vernichten.

Ein weiteres Merkmal der Unterentwicklung ist der geringe Einfluss, den die unterentwickelten Länder auf den Markt ausüben. Sie konkurrieren auf einem begrenzten Rohstoffmarkt beispielsweise für Tee, Kaffee, Zucker oder Kautschuk. (15) Die Preise für die Primärgüter und Rohstoffe schwanken stark, insbesondere aufgrund der Rohstoffspekulationen in der Ersten Welt:

„Mitte der 70er Jahre fiel der Preis für ein Pfund Zucker innerhalb von 18 Monaten von 64 Cents pro Pfund auf 6 Cents pro Pfund. Tansanias erster Fünfjahresplan basierte auf dem Mindestweltmarktpreis von £90 für Sisal; der Weltmarktpreis fiel auf £60. In den späten 50er Jahren sanken die Kakaopreise in den USA von 1000 Dollar pro Tonne in einem Jahr auf 400 Dollar, dann stiegen sie wieder auf 1000 Dollar, um sogleich wieder auf 600 Dollar zu fallen… Die Kupferpreise [in Sambia] standen im April 1974 auf 3’034 Dollar; noch bevor das Jahr zu Ende war, fielen sie auf 1’290 Dollar.“(16)

Die „Cash Crops“ der unterentwickelten Länder sind ein trügerischer Reichtum. Sie zerstören nicht nur die heimische Volkswirtschaft und schaffen Abhängigkeiten, sie neigen dazu, mit der Zeit auch an Wert zu verlieren. 1960 konnten 25 Tonnen exportiertes Naturkautschuk in Sri Lanka gegen 6 Traktoren eingetauscht werden. 1970 dasselbe nur noch für 2 Traktoren. Auf ähnliche Weise sank der Wert von Bananen zwischen 1950 und 1970 um 30 Prozent. (17) Das Muster, welches von Hayter beschrieben wird, setzt sich noch immer fort. Der sogenannte Freihandel zerstörte in den 80er und 90er Jahren einen Großteil des Agrarsektors von Haiti. 1986 musste Haiti gerade mal 7’000 Tonnen Reis, das Grundnahrungsmittel dieses Landes, importieren. Der Großteil vom benötigten Reis wurde in Haiti selber angebaut. Nachdem Haiti aber der Freihandelspolitik der internationalen Kreditgeber gefügig wurde, wurde das Land augenblicklich von billigerem Reis aus den USA, wo der Reisanbau subventioniert wird, überschwemmt. In den Vereinigten Staaten wurden 1985 die staatlichen Reissubventionen mit dem „Farm Bill“ erhöht. 1987 kamen in den Vereinigten Staaten 40 Prozent des Umsatzes der Reisindustrie aus den staatlichen Subventionen. Die haitischen Bauern konnten einfach nicht dagegen ankommen. 1996 musste Haiti schließlich 196’000 Tonnen Reis für 100 Millionen Dollar pro Jahr importieren. Der haitische Reisanbau wurde unbedeutend. War Haiti erst einmal auf importierten Reis angewiesen, begannen sogleich die Preise zu steigen. Die Bevölkerung Haitis, besonders die arme Bevölkerung der Stadt, war am Boden zerstört. (18) Die unterentwickelten Länder sind in einem Teufelskreis gefangen. Um ihren Umsatz zu halten, müssen sie immer mehr „Cash Crops“ anbauen. Dadurch verheddern sie sich in Überproduktion und in sinkenden Preisen. Und wenn sie nicht mithalten und deshalb immer mehr Kredite aufnehmen müssen, wird schließlich bei den Sozialausgaben gespart. (19) Die Erste Welt gelangt zu Wohlstand. Die Dritte Welt versinkt in Schulden, Armut und Abhängigkeit.

Der Mythos der Entwicklungshilfe mittels Investitionen

Die imperialistischen Länder machen Druck auf die unterentwickelten Länder, damit diese ihre Märkte für Güter aus den imperialistischen Ländern öffnen. Die Imperialisten überfluten die lokalen Märkte, zerstören die lokale Industrie und machen damit den Weg frei für ihre imperialistischen Monopole. Hayter widerlegt die imperialistische Behauptung, die sowohl von die Imperialisten als auch von einigen erstweltlerischen sogenannten Marxisten gebraucht wird, dass nämlich die Imperialisten den armen Ländern durch ihre Investitionen mit Kapital einen Gefallen täten. Hayter meint, dass die Investitionen in die Dritte Welt in Wirklichkeit ein Weg sei, der Dritten Welt ihren Reichtum abzuknöpfen. Gunder Frank beschreibt diesen Prozess, wie er in Indien stattfindet:

„Die zwei wichtigsten Instrumente, mit welchen die Engländer Kapital aus Indien abschröpften, waren die Eisenbahn und die Verschuldung. Die Eisenbahn war nicht nur ein physisches Instrument, welches zur Umstrukturierung der Wirtschaft verwendet wurde, um konkret Rohstoffe herauszusaugen und Fertigprodukte hineinzupumpen. Die Inder wurden darüber hinaus nämlich auch noch verpflichtet, die Errichtung dieses ausbeuterischen Mechanismus auf ihrem Boden aus eigener Tasche zu bezahlen. Und die „indischen Schulden“, denen die britische Kolonialverwaltung jeden denkbaren und undenkbaren Firlefanz anrechnete, wurden durch die besonderen Umstände Indiens zum wichtigsten steuerlichen Instrument, um den wirtschaftlichen Mehrwert aus den Kolonien in die Metropole zu leiten.“ (20)

Die Auslandsinvestitionen sind in Wirklichkeit ein Weg, um lokale Unternehmen zu übernehmen oder sie zu zerstören. Gunder Frank schreibt:

„Das Eisenbahn- und das Stromnetz, die alles andere als netzartig waren, wurden strahlenförmig aufgebaut und verbanden das Hinterland oder alle Gegenden der Kolonie und manchmal auch verschiedene Länder mit dem Eingangs- und Ausgangshafen, welcher wiederum in Verbindung mit der Metropole stand.“ (21)

Der Abfluss von Kapital aus den unterentwickelten in die imperialistischen Länder übersteigen den Zufluss bei weitem. Hayter zitiert Richard J. Barnet und Ronald E. Müller zum umgedrehten Sozialsystem: „So unglaublich es auch scheinen mag; die armen Länder fungierten als Quelle des Finanzkapitals für die weltweite Expansion der internationalen Konzerne, auf die nicht verzichtet werden konnte.“ Hayter weist darauf hin, dass das Kapital, welches in ein unterentwickeltes Land „investiert“ wird, normalerweise schon von vornherein dort erzeugt worden war. Durchschnittlich 80 Prozent des Kapitals, das in die unterentwickelten Länder investiert wird, wurde von den unterentwickelten Ländern selbst erzeugt. (22) So viel zum Mythos, dass die Erste Welt ihren eigenen Reichtum in der Entwicklung der Dritten Welt riskieren würde.

Ein weiterer Weg, wie die Imperialisten die Dritte Welt peinigen, ist, an ihre Entwicklungshilfe Bedingungen zu knüpfen. Sie machen Reformen für den „freien Markt“ zur Bedingung für Kredite bei Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Gleichzeitig werden von den Imperialisten Schranken errichtet gegen „billige Importe“ aus der Dritten Welt. In den USA führen oftmals die Gewerkschaften den Vorsitz, wenn es darum geht, Gesetze im Stil von „Buy American“ zu machen. Hayter zeigt, dass die Entwicklungshilfe als Werkzeug benutzt wird, um die Unterentwicklung auf Dauer aufrechtzuerhalten. Als Hayter ihr Buch schrieb, war ca. ein Drittel des Kapitalflusses in die unterentwickelten Länder Entwicklungshilfe. Der Großteil der Entwicklungshilfe erfolgte in Form von Krediten, an die viele weitere Verpflichtungen geknüpft waren. Die Entwicklungshilfe spielte seit jeher eine große Rolle, insbesondere seit dem 2. Weltkrieg. Sie steht zweifellos im gemeinsamen Interesse der Imperialisten und der Kompradorenelite der Dritten Welt. Die Entwicklungshilfe ist eine Bestechung an sie, damit sich die Kooperation bei der Abschröpfung des Reichtums aus ihren Ländern lohnt. Die Entwicklungshilfe ist eine Möglichkeit der Imperialisten, die Dritte Welt an der Stange zu halten. Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten John F. Kennedy sagte 1961: „Die Entwicklungshilfe ist eine Methode, mit welcher die Vereinigten Staaten die Position des guten Einflusses und der Kontrolle über die Welt beibehalten und damit recht viele Staaten stützen können, die sonst definitiv kollabieren oder dem Kommunistischen Block zufallen würden.“ 1968 sagte Nixon, dass „es nicht der hauptsächliche Zweck der amerikanischen Entwicklungshilfe sei, anderen Nationen zu helfen, sondern uns selbst zu helfen.“ Die Entwicklungshilfe wird gebraucht, um die Despoten zu unterstützen, die nach der imperialistischen Pfeife tanzen. Die Entwicklungshilfe wird als Köder gebraucht, welche vor die Nase hungernder Länder gehalten wird: Gib nach, dann kriegst du’s! Hayter beschreibt zum Beispiel, wie die USA versuchten „die einigermaßen linke Regierung von Bangladesch unter Sheikh Mujibur Rahman, welche ziemlich stark von Nahrungsmittelimporten ‚abhängig’, aber zu jener Zeit nicht sehr kooperativ war, kooperativ zu machen. 1974 starben zwischen 27’000 und 100’000 Bewohner Bangladeschs infolge einer menschgemachten Hungersnot.“ Hayter zitiert eine Quelle: „Die Hauptursache der Krise lag beim Zusammenbruch der Exportförderungsprogramme… Wie es scheint, hatte sich die USA entschlossen, auf dramatische Weise ihre furchteinflößende Macht der Ernährungspolitik zu demonstrieren.“ Mit vollem Bewusstsein, dass das Volk Bangladeschs am Abgrund stand, verzögerten die USA vorsätzlich ihre normalen Lieferungen an Lebensmittelhilfe. Dadurch setzten die USA die Regierung Bangladeschs unter Druck, ihre Investitionspolitik zugunsten des Privatsektor zu revidieren. Um dem Ganzen noch eins draufzusetzen, hielten die Vereinigten Staaten weiterhin Lebensmittel zurück, weil Bangladesch noch immer wirtschaftliche Beziehungen zu Kuba unterhielt. Schlussendlich wurde Sheikh Mujibur Rahman ermordet, möglicherweise mit Unterstützung der CIA, und wurde durch einen mehr entgegenkommenden Kollegen ausgetauscht.(23)

Eine ganze Entwicklungsideologie wurde kreiert, um den Imperialisten ein philanthropisches und den Kompradoren in den unterentwickelten Ländern ein patriotisches Mäntelchen zu geben. Die Menschen in den USA sagen vielfach von sich selbst, sie seien die großzügigsten Menschen der Welt. Die Menschen in den USA sind dann aber ratlos: Warum hassen uns die Menschen in der Dritten Welt so sehr? Wieso sind die so undankbar? Wieso beißen sie die Hand, die sie füttert? Die Kompradorenelite der Dritten Welt erzählen ihren Leuten oftmals, sie seien Partner der Imperialisten und würden dadurch Entwicklung bringen. „Wir können doch genauso leben wie die Leute in den USA.“, sagen sie. Sie werfen den Rebellenorganisationen vor, antipatriotisch und primitivistisch zu sein, weil sie Züge und Stromleitungen in die Luft jagen. Die reaktionäre Ideologie der Entwicklung jenseits des Klassenkampfs, das Streben nach dem Ideal der Ersten Welt, die Theorie der produktiven Kräfte, war entscheidend für die Demontage des Sozialismus im China der 70er Jahre. Hayter stellt den Mythos der Entwicklungshilfe und die falschen Versprechen der Erstweltler gehörig bloß.

Der Transfer von Arbeitern und von Mehrwert

Die Entwicklung der Unterentwicklung versetzte die Arbeiter der Dritten Welt in die Art von prekären Situation, die von Marx im Manifest der Kommunistischen Partei beschrieben worden ist. Im Unterschied zu ihren Gegenstücken in der Ersten Welt sind die Arbeiter der Dritten Welt gezwungen am oder unter dem Existenzminimum zu leben. Die eine Methode, um die Löhne der Arbeiter in der Dritten Welt niedrig zu halten, ist, durch das Bezahlen von Löhnen, die zwar noch knapp für das Überleben der Arbeiter ausreichen, die Kosten der Altersversorgung, einer Krankenversicherung oder dem Unterhalt der Kinder werden dann aber nicht vom Arbeitgeber oder dem Staat übernommen. Die internationalen Unternehmen, vor allem diejenigen, die in Billiglohnländern tätig sind und Konsumgüter für die reichen Länder herstellen, zahlen den Arbeitern dort einen Bruchteil der Löhne, die die sogenannten Arbeiter in den reichen Ländern gezahlt bekommen. Diese Firmen suchen sich ihre Arbeiter aus. Sie benutzen Frauen, Kinder und Lehrlinge. Die Arbeiter sind meistens Landlose und verarmt. Ihnen bleibt keine Alternative, außer nach Beschäftigungsmöglichkeiten im „formellen Sektor“ der Wirtschaft zu suchen, bis sie nicht mehr gebraucht werden. Sie werden in der Blüte ihres Lebens eingestellt und entsorgt, wenn sie ausgezehrt und abgenutzt sind. Um ihre eigenen Bedürfnisse und die ihrer Familien befriedigen zu können, werden sie dann in den „informellen Sektor“ in den Slums der Großstädte getrieben. Auf diese Weise befreien sich die Arbeitgeber und der Staat von der Last, sich um diese Menschen kümmern zu müssen. Parallel dazu erfolgt der „Braindrain“ aus der Dritten Welt. Die Drittweltländer bilden und fördern hochqualifizierte Fachkräfte wie zum Beispiel Ärzte und Ingenieure. Danach verlassen diese Fachkräfte aber ihr Land, um ihr Handwerk in der Ersten Welt auszuüben. Folglich zahlt die Dritte Welt zwar für ihre Ausbildung, hat aber am Schluss trotzdem nichts davon. Die Erste Welt sackt den ganzen Gewinn ein. Das Ganze zehrt an der Dritten Welt und trägt zur Situation bei, in der Arbeitskräfte billig zu bekommen sind. Die massive Arbeitslosigkeit; Unterbeschäftigung; Migration aus dem verarmten ländlichen Raum; Flüchtlinge, die den Konfliktzonen entfliehen; all dies trägt zur Situation bei, die eine Ausbeutung durch die Unternehmen erleichtert. Zusätzlich wurde den Versuchen, gemeinsam gegen diese Bedingungen Widerstand zu leisten und zu rebellieren, mit brutalster Repression begegnet: Gemetzel, Massaker, Todesschwadronen… Die extreme Ausbeutung von heute durch Niedriglöhne hat ihre Wurzeln in der Kolonialpolitik der Vergangenheit. (24)

Die Kommunisten des Leitenden Lichts heben oft hervor, dass die Arbeiter der Dritten Welt ziemlich genau der Marxschen Beschreibung des Proletariats entsprechen. Die Arbeiter der Dritten Welt haben eindeutig nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie wurden abgeschnitten von der traditionellen Art der Selbstversorgung, so dass sie nichts weiter besitzen als ihre Arbeitskraft. Sie bekommen gerade genug, um sich von Tag zu Tag über Wasser zu halten. Sie schuften tagein, tagaus, während sie eine zermürbende, abstumpfende, repetitive Tätigkeit verrichten, oftmals 10 – 14 Stunden am Tag, 6 oder 7 Tage die Woche. Im Gegensatz dazu, schwelgen die sogenannten Arbeiter der Ersten Welt geradezu in Luxus. Sie besitzen oft Häuser, Luxusartikel wie Autos, Computer, Fernseher, Stereoanlagen, einen richtigen Küchenherd, nicht zuletzt Kühlschränke. Sie können sich einer üppigen Garderobe, Spielzeuge für ihre Kinder, fließendem Wasser, sanitären Anlagen etc. erfreuen. Sie haben ein relativ angenehmes Arbeitsumfeld, freie Wochenenden, Ferien etc. Sie haben politisch und kulturell mehr mit ihrer eigenen Bourgeoisie gemein als mit dem Proletariat der Dritten Welt. Zusätzlich bekommen die sogenannten Arbeiter in der Ersten Welt Löhne auf der Stufe von Ausbeutern; sie bekommen mehr, als sie am globalen Sozialprodukt Anteil hätten. Die sogenannten Arbeiter der Ersten Welt haben also weit mehr zu verlieren als ihre Ketten. Sie verbünden sich mit der eigenen herrschenden Klasse und mit dem Imperialismus gegen die Dritte Welt. Auch Hayter hebt den großen Unterschied der Löhne zwischen der Ersten und der Dritten Welt hervor. Sie erkennt, dass manche Imperialisten sich der Verbindung zwischen dem sozialen Frieden in der Ersten und der Unterentwicklung in der Dritten Welt sehr wohl bewusst sind. Der Erzimperialist Cecil Rhodes schrieb 1896:

„Ich war im Eastend… und wohnte einem Treffen von Arbeitslosen bei. Ich hörte den wilden Reden zu, welche nur Schreie waren nach Brot und nochmals Brot, und auf dem Weg nach Hause dachte ich über die erlebte Szene nach und mehr denn je war ich von der Bedeutung des Imperialismus überzeugt… Meine langgehegten Ideen sind eine Lösung für das soziale Problem, d.h. um die 40’000’000 Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem blutigen Bürgerkrieg zu bewahren, müssen wir, die Kolonialpolitiker, uns neues Land aneignen, um dort die überschüssige Bevölkerung anzusiedeln und neue Märkte für die von ihnen produzierten Güter zu erschließen… Das Empire ruht, wie ich schon immer sagte, auf der Frage des täglichen Brots.“ (25)

Auch der Kommunist Palme Dutt schrieb in den 50er Jahren:

„Die imperialistische Wirtschaft Englands ist eine parasitäre Wirtschaft. Sie ist für ihre Aufrechterhaltung in zunehmendem Maße abhängig vom Tribut der restlichen Welt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurden beinahe zwei Fünftel des britischen Imports nicht mehr durch den Export von Gütern bezahlt; und dieses Verhältnis hat sich bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs noch vergrößert… 1951 ist der Importüberschuss auf die Gesamtsumme von £779 Millionen angewachsen.“ (26)

Mehrwert fließt in die Erste Welt, erhöht dort den Lebensstandard und schafft einen sozialen Frieden, der somit auf Kosten der Dritten Welt erkauft wird. Außer Raub und Plünderung gibt es weitere Mechanismen, welche den Mehrwert aus der Dritten in die Erste Welt leiten. Hayter verweist auf den Klassiker von Arghiri Emmanuel „L’échange inégal“ und Samir Amins „L’accumulation à l’échelle mondiale“ für Erklärungen dazu:

„Da die Exporte der unterentwickelten Länder mit extrem niedrigen Löhnen und der Import von größtenteils Fertigwaren aus Europa und Nordamerika mit höheren Löhnen produziert werden, suggeriert die Theorie, dass dieser Austausch ungleich ist. Samir Amin machte in „L’accumulation à l’échelle mondiale“ quantitative Schätzungen des Betrags, der auf diese Weise transferiert wurde. Er sagt: die unterentwickelten Länder bekamen 1966 für ihre Exporte 35’000 Millionen Dollar. Unter Berücksichtigung der Differenzen in der Produktivität, welche kleiner sind als die Differenzen im Lohnsatz, hätten sie zusätzliche 22’000 Millionen Dollar bekommen, wenn ihren Arbeitern die gleichen Löhne gezahlt worden wären, die in den entwickelten Ländern üblich sind; und dieser Betrag ist ungefähr gleich groß wie die Summe der Investitionen von den unterentwickelten Ländern.“ (27)

Hayter zeigt einen weiteren, möglichen Blickwinkel darauf, dass nämlich Waren, die auf einem niedrigeren technischen Niveau produziert werden, ausgetauscht werden mit Waren, die auf höherem technischen Niveau produziert werden. Diejenigen, die sich auf einem hohen technischen Niveau befinden, haben einen Marktvorteil, genauso wie Facharbeiter gegenüber ungelernten Arbeitern im Vorteil sind. Diejenigen, die sich auf einem hohen technischen Niveau befinden, können einen höheren Preis für ihre Produkte verlangen, genauso wie es der Facharbeiter für seine Arbeit tun kann. Die Erstweltler benutzen häufig dieses Argument, um zu rechtfertigen, weshalb die sogenannten Arbeiter der Ersten mehr verdienen sollen als ihre Gegenstücke aus der Dritten Welt. Sie behaupten, die sogenannten Arbeiter in der Ersten Welt seien analog zu Facharbeitern, und sollen deshalb mehr verdienen. Selbstverständlich argumentierte Marx dagegen, dass die Produktivität der Produzenten (wenn man außer Acht lässt, dass sowieso nur wenige in der Ersten Welt wirklich produzieren) an ihren Anspruch gebunden sein sollte. Behaupten die Kapitalisten genauso wie die erstweltlerischen sogenannten Marxisten, nicht ständig, dass sie selber keineswegs untätig seien, sondern sogar mit sehr viel hochqualifizierter Kopfarbeit zur Produktion beitrügen? Behaupten die Topmanager etwa nicht, dass sie die Leute mit den großartigen Ideen seien, ohne die das ganze Unternehmen untergehen würde? Das Ganze ist jedenfalls irrelevant, weil es ein Mythos ist, dass die sogenannten Arbeiter in der Ersten produktiver wären als die Arbeiter in der Dritten Welt. Die Zollkommission der Vereinigten Staaten berichtete 1973, dass das Produktivitätsniveau in den vergleichbaren Sparten der Industrie gleich hoch wäre. (28) Die Arbeitsproduktivität in den unterentwickelten Ländern oder die produzierte Menge wird eigentlich, wie Hayter zeigt, in zunehmendem Maße als gleich groß wie in den entwickelten Ländern angesehen. Da die Produktionsmittel in der Dritten Welt oftmals mangelhaft oder gebraucht sind, und das Arbeitsumfeld für Drittweltarbeiter viel schlechter ist, sie weniger Lohn bekommen, länger arbeiten müssen etc., könnte man sogar behaupten, dass die Arbeiter der Dritten produktiver sind als die sogenannten Arbeiter in der Ersten Welt. (29)

Hayter argumentiert gegen Arghiri Emmanuel mittels Charles Bettelheim, dass es den Arbeitern der Dritten Welt wahrscheinlich nicht helfen wird, wenn man im gegenwärtigen System des Kapitalismus-Imperialismus einfach nur die Löhne in der Ersten Welt senkt. Das würde nämlich nur in einer höheren Profitrate für die Kapitalisten resultieren und den Arbeitern der Dritten Welt keinen höheren Lebensstandard bringen. Mag es stimmen oder nicht, man darf nicht vergessen, dass eine Lohnerhöhung in der Ersten einen geringeren Anteil am Sozialprodukt für die Dritte Welt zur Folge hat. Jede Erhöhung des Anteils jeder Ausbeuterklasse in der Ersten Welt wird negative Konsequenzen für die Dritte Welt nach sich ziehen. Obwohl es auch Widersprüche zwischen den erstweltlerischen Ausbeutern gibt, zum Beispiel zwischen den Kapitalisten und den sogenannten Arbeitern in der Ersten Welt, so sind diese Widersprüche jedoch nicht antagonistisch. Sowohl die Kapitalisten als auch die sogenannten Arbeiter der Ersten Welt sind, auch wenn sie sich um einen höheren Anteil am Sozialprodukt streiten, Klassen von Ausbeutern. Folglich verbünden sich beide Klassen miteinander und mit dem Kapitalismus-Imperialismus gegen die Dritte Welt. Das ist der Grund, weshalb sich die Kommunisten des Leitenden Lichts nicht in die Lohnkämpfe der Ersten Welt einmischen. Der Kampf um bessere Löhne in der Ersten Welt ist beinahe immer ein Kampf zwischen zwei Ausbeutern. Egal wer den Lohnkampf gewinnt, die Dritte Welt verliert dabei. Hayter schafft es nicht, zu zeigen, dass im Sozialismus der Reichtum der Ersten zurück zur Dritten Welt umverteilt werden könnte, zum Vorteil der großen Mehrheit der Menschheit und zum Nachteil der Ausbeuterklassen der Ersten Welt, einschließlich deren sogenannten Arbeiter. Es wäre de facto vielmehr eine Unterstützung des Imperialismus, wenn man nicht versuchen würde, den globalen Reichtum zum Nachteil der Bevölkerung der Ersten Welt umzuverteilen. Das ist der Grund, weshalb so viele der sogenannten Marxisten in Wirklichkeit Sozialimperialisten sind, trotz ihrer internationalistischen Rhetorik. Zusätzlich muss gesagt werden, dass der Sozialismus notwendigerweise eine Reduktion des Konsums der Ersten Welt zur Folge hat, ganz einfach weil das gegenwärtige Konsumniveau ökologisch nicht nachhaltig ist. Würde man der Ersten Welt weiterhin erlauben, so zu konsumieren wie bisher, wäre das nicht nur eine Fortsetzung der extrem Ausbeutung der Drittweltarbeiter, sondern es würde auch die Zukunft der Menschheit in Frage stellen.

Die Welt von heute

Viele der Tendenzen, die Hayter beschreibt, existieren bis heute, drei Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung des Buches. Die Unterentwicklung hat jedoch in den vergangen Jahrzehnten neue Formen angenommen. Auch wenn Hayters Buch die Entstehung der Armut in der Dritten Welt gut beschreibt, klafft darin ein großes Loch: es wird nur eine Seite des Prozesses beschrieben. Sie beschreibt, was für Auswirkungen der Diebstahl des Mehrwerts auf die Dritte Welt hat, aber nicht, wie dieser Prozess die Gesellschaft der Ersten Welt radikal verändert hat. Sie beschreibt nicht, zumindest nicht detailliert, wie Reichtum und sozialer Frieden für die Erste Welt durch die Unterwerfung der Dritten geschaffen wird. Sie beschreibt nicht, wie es in den letzten Jahrzehnten zum Aufstieg der Kaufhausökonomie gekommen ist. Die Maoisten-Drittweltisten dagegen haben das Phänomen beschreiben können:

„Die globale Gesellschaft hat sich nicht genau so entwickelt und polarisiert, wie es Marx prophezeit hat. Stattdessen existieren um den Globus herum verschiedene Formen der Klassengesellschaft. In manchen Ländern gibt es nur noch wenige unmittelbare Produzenten. Das ist der Fall in den Kaufhausökonomien der Ersten Welt. Fabriken dominieren nicht länger das Leben der Menschen der Ersten Welt. Nur ein kleiner Teil der Menschen in der Ersten Welt arbeitet noch in einer Fabrik. Eine weitaus größere Zahl ist im Management, im Dienstleistungssektor etc. angestellt. Um es mit Marxschen Worten auszudrücken, kann das als einen Rückgang des Bevölkerungsanteils, welcher im produktiven Arbeitssektor beschäftigt ist, bezeichnet werden, d.h. in dem Arbeitssektor, in welchem dem gesamten Sozialprodukt etwas hinzufügt wird. Viele Volkswirtschaften der Ersten Welt können als überdimensionierte Kaufhäuser betrachtet werden. Nichts oder nur ganz wenig wird in einem Kaufhaus produziert. Dennoch gibt es dort Leute, die sich darum kümmern, die Waren zu managen, zu transportieren, herbeizuschaffen etc., Waren, die anderswo hergestellt worden sind und nun im Kaufhaus verkauft werden. Es ist dieser Zustrom von Waren von außerhalb, welcher das Kaufhaus am Laufen hält. Die Warenproduktion selber vollzieht sich aber außerhalb des Kaufhauses, in der Dritten Welt. Es war die Beseitigung der unmittelbaren Produktion, und damit die Zerstörung des revolutionären Bewusstseins, welche Friedrich Engels dazu brachte, über die Verbürgerlichung der englischen Arbeiterklasse auf dem Rücken von Indien und der Welt zu schreiben.“ (30)

Hayter zollt zwar einem vagen Konzept des „Sozialismus“ ihre Anerkennung; da sie der Beziehung zwischen der innenpolitischen Lage der Ersten Welt und der Unterentwicklung der Dritten aber nicht weiter nachgeht, versteht Hayter nicht, dass der Sozialismus einen radikalen Wandel der Gesellschaft der Ersten Welt nach sich ziehen würde. Der Lebensstandard der Ersten Welt ist weder materiell noch ökologisch nachhaltig. Eine weltweite sozialistische Umverteilung des Reichtums hat eine drastische Senkung der Löhne und des Lebensstandards der Menschen der Ersten Welt zur Folge. Den sogenannten Arbeitern in der Ersten Welt wird es nicht mehr erlaubt sein, im großen Maß vom Mehrwert zu leben, den die Menschen der Dritten Welt geschaffen haben. Die Konsumkultur der Ersten Welt und der gegenwärtige Level des Energieverbrauchs sind weder gerecht noch wünschenswert noch sind sie ökologisch nachhaltig und werden deshalb im Sozialismus nicht länger existieren. Hayter versteht die Neue Macht nicht als Diktatur des Proletariats der ausgebeuteten Länder über die ausbeutenden Länder. Hätte Hayter das Buch heute geschrieben, gehörte sie wohl zu den Wankelmütigen. Solche Menschen würden den Drittweltismus oder Maoismus-Drittweltismus vielleicht auf intellektueller Ebene begrüßen, wenn es aber zum Äußersten kommen würde, den politischen Mut verlieren. Sie schaffen den Schritt nicht zum echten Kommunismus, zum Kommunismus des Leitenden Lichts. Wir müssen die jakobinische Lektion der großen proletarischen Kulturrevolution in Erinnerung behalten. Kommunisten müssen willens sein, bis zum Äußersten, bis über ihre Grenzen hinaus vorwärtszugehen.

Fußnoten

Originaltitel des Artikels: Book review part 2 of 2 of Teresa Hayter’s The Creation of World Poverty by Prairie Fire

1. Marx, Karl. Das Manifest der Kommunistischen Partei. Abgerufen von: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1848/manifest/1-bourprol.htm; es ist interessant, wie oft die erstweltlerischen sogenannten Marxisten die populäreren Werke von Marx, Vereinfachungen des Marxismus, gegen den Maoismus-Drittweltismus ins Feld führen. Wenn sie dann aber mit den ausgefeilteren, wissenschaftlicheren Werken konfrontiert werden, wie zum Beispiel das Kapital mit seinen drittweltlerischen Andeutungen, können die Erstweltler keine Antworten mehr liefern. Siehe: Prairie Fire: Neubetrachtung von Mehrwert und Ausbeutung; https://deutsch.llco.org/neubetrachtung-von-mehrwert-und-ausbeutung/

2. Hayter, Teresa. The Creation of World Poverty. Third World First. Great Britain: 1990. S. 37-39.

3. Hayter, S. 38.

4. Hayter, S. 38.

5. Hayter, S. 48.

6. Hayter, S. 20.

7. Hayter, S. 52.

8. Hayter, S. 54.

9. Hayter, S. 69.

10. Hayter, S. 59-63.

11. Hayter, S. 53.

12. Hayter, S. 57.

13. Hayter, S. 57.

14. Hayter, S. 67.

15. Hayter, S. 67.

16. Hayter, S. 68.

17. Hayter, S. 67.

18. Review of Jean-Bertrand Aristide’s Eyes of the Heart. LLCO. 2010. Abgerufen von: https://llco.org/review-of-jean-bertrand-aristides-eyes-of-the-heart/

19. Hayter, S. 67.

20. Hayter, S. 75-76.

21. Hayter, S. 75-76.

22. Hayter, S. 77.

23. Hayter, S. 86-87.

24. Hayter, S. 59-63.

25. Hayter, S. 71.

26. Hayter, S. 71-72.

27. Hayter, S. 64.

28. Hayter, S. 97.

29. Hayter, S. 107.

30. Neubetrachtung von Mehrwert und Ausbeutung. LLCO. 2010. Abgerufen von: https://deutsch.llco.org/neubetrachtung-von-mehrwert-und-ausbeutung/

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